Es gibt nur wenige große Metropolen in Europa, die in unmittelbarer Nähe eine ganz andere Kulturlandschaft haben, in der auch eine andere Lebensweise herrscht. Wien hat das, und wenn man mit dem Auto 30 Kilometer nördlich fährt, dann weiß man, welche Region gemeint ist.
Es ist das Weinviertel. Die Grenze der Region verläuft im Osten entlang der österreichischen Staatsgrenze zur Slowakei, im Norden ist Tschechien der Nachbar. Nur wenige Wiener suchten sich in der Vergangenheit dort „an der Grenze zum Osten“ einen Zweitwohnsitz. Für einen Hauptwohnsitz war die Gegend ohnehin nicht attraktiv genug. Doch heute ist alles ganz anders.
Im Zuge der Corona-Krise und der Erfahrungen während der Lockdowns hat sich die Stadtflucht, die sich laut Michael Pisecky, dem Geschäftsführer der s REAL, schon seit 2015 entwickelt, eindeutig verstärkt. „Alles rund um Wien boomt gerade“, bestätigt auch der FindMyHome.at-Geschäftsführer Bernd Gabel-Hlawa: „Durch Corona haben sich die Wohnbedürfnisse verändert. Die Leute wollen ins Grüne.“ Aber gleichzeitig doch auch nicht zu weit weg von der Stadt sein. Von diesen Wünschen profitiert vor allem das Weinviertel. Peter Weinberger, Geschäftsführer Raiffeisen Immobilien NÖ/Wien/Burgenland: „Die Sehnsucht nach einem Haus mit Garten oder auch nach einem Grundstück im Grünen ist enorm und spiegelt sich in einem Nachfragezuwachs von rund 30 Prozent wider.“ Gesucht werden vor allem Immobilien in Gegenden „mit guter Infrastruktur und guter Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel, wie etwa in den Bezirken Mistelbach und Gänserndorf entlang der S-Bahn-Linien und der Nordautobahn A5“, so Peter Weinberger.
Haus mit Garten gesucht
Laut einer Umfrage des digitalen Markt- und Meinungsforschungsinstituts Marketagent streben die Wiener als Gegenpol zur Großstadt eher in kleinere Gemeinden. Die bevorzugte Wohnregion bei einem Umzug wäre für jeden Zweiten eine ländliche Gemeinde mit bis zu 5.000 Einwohnern. Knapp ein Viertel würde eine Kleinstadt wählen und 16 Prozent eine Stadt mittlerer Größe. Die Immobilienpreise im Weinviertel spielen bei einem Wohnsitzwechsel natürlich auch eine Rolle. Der Bezirk Korneuburg zählt zwar auch zum Weinviertel, ist aber mittlerweile eine der teuersten Regionen in Niederösterreich – gesucht wird daher vornehmlich weiter nördlich. Hier rückt auch der Wohntraum der Österreicher wieder in den Vordergrund: Speziell Einfamilienhäuser werden im Weinviertel gesucht. Johann Marchner, Wienerberger-Österreich-Geschäftsführer, dazu: „Die letzten Lockdowns sowie die nasskalte Jahreszeit bewirkten, dass wir wieder mehr Zeit in den eigenen vier Wänden verbrachten. Wenn es eng wird, ein ruhiger Raum für das Homeoffice fehlt oder die Kinder nicht einfach in einem Garten spielen können, kommt bei vielen der Wunsch nach einem eigenen Einfamilienhaus auf.“
Ortskern statt grüner Wiese
Allerdings hat die Nachfrage nach Häusern und nach Grundstücken auch vielerorts die Preise steigen lassen. „Im Bezirk Gänserndorf hatten wir schon immer viele Käufer aus Wien, denen es in der Stadt zu eng geworden ist. Das hat die Pandemie natürlich verstärkt“, so Bernhard Rettig, MBA, RE/MAX Eco in Gänserndorf: „Selber bauen ist nicht nur mit höheren Kosten, sondern auch mit längerem Zeitaufwand verbunden. Das haben viele Interessenten bereits erkannt. Leider ist das Einfamilienhausangebot knapp, und das treibt die Preise.“ Zudem steht die Politik bei Umwidmungen in Bauland auf der Bremse, denn mehr Einwohner bedeutet für viele Gemeinden auch, ein Mehr an Infrastruktur schaffen zu müssen. Für viele kleinere Gemeinden ist dies derzeit ein finanzieller Spagat, der nur schwer zu bewerkstelligen ist. In zahlreichen Orten wird daher immer lauter diskutiert, Flächen mit unzeitgemäßen Gebäuden in Ortzentren effizient und modern zu nutzen, sprich: Häuser innerhalb der Ortsverbände abzureißen und durch neue, in das Ortsbild passende Gebäude zu ersetzen.
Aufgrund der Nachfrage nach Immobilien, die nicht befriedigt werden kann, werden immer mehr Bauträger im Weinviertel aktiv und errichten Wohnprojekte mit mehreren Einheiten. Laut der Studie „Wohnbauprojekte in der Pipeline“ der WKO in Zusammenarbeit mit EXPLOREAL sind seit April 2019 im Weinviertel rund 90 Projekte mit jeweils mehreren Wohnungen in die Vermarktung gekommen. Im Vergleich zum Industrie- (172 Projekte) und zum Mostviertel (135 Projekte) sind es zwar weitaus weniger Wohnungen, aber das Angebot steigt. Gegenüber Wien fällt auf, dass die Projekte von der Anzahl der Wohneinheiten her deutlich kleiner sind und die Wohnungen mehr Wohnfläche und Pkw-Stellplätze aufweisen sowie über einen hohen Terrassen-/Gartenanteil verfügen.